„Wir hatten wirklich nichts. Wir hatten wirklich nur uns.“

Marie, 18 Jahre Gemischte Wohngruppe, NRW; Interview kurz vor dem zweiten Lockdown im Dezember 2020

Interviewerin: Ok. Dann würde ich schon mit der ersten Frage zu Corona starten. Du hast gerade ja schon angedeutet, dass du eigentlich immer viel mit Freunden machst, aber wegen Corona aktuell nicht. Daher würde mich interessieren, wie sich dein Alltag seit Corona geändert hat.


Marie: Zur Anfangszeit die März-April-Zeit hatten wir praktisch schon keinen Kontakt zur Außenwelt mehr. Wir waren da praktisch schon in Quarantäne, nur halt nicht verpflichtend, sondern zum vorsorglichen Schutz, weil wir ja so viele sind. Ja zur Anfangszeit war es schwierig, weil wir niemanden sehen durften. Keine Freunde und auch keine Familie. Ich hatte da das Glück, dass meine Mutter ziemlich mobil ist und mir manchmal Sachen vorbeibringen konnte, wenn ich was gebraucht habe. .. Äh ja, dann irgendwann mir ging es dann so richtig schlecht damit. Ich wusste gar nicht was ich damit machen sollte. Ich habe auch jegliche Alltagsstruktur verloren, weil wir ja den ganzen Tag hier waren und auch nicht zur Schule gegangen sind. 


Interviewerin: Was war den anderes im Alltag? Kannst du ein Bespiel benennen? 


Marie: (überlegt) Der Alltag. Also die Betreuer haben in Teams gearbeitet. Das war schon ein bisschen komisch, weil dann in der einer Woche immer das eine Team da war mit Claudia, und zwei anderen Leuten und in der anderen Woche drei andere. Die waren dann immer im Wechsel da. Immer diese drei oder diese drei. Das war schon ziemlich nervig.

Wir sind alle so um 9 Uhr aufgestanden. Das fand ich tatsächlich ganz gut, weil ich bin davor immer um viertel nach fünf aufgestanden. Diese Umstellung war tatsächlich ganz nice. Aber ich fand es einfach ziemlich anstrengend die Aufgaben, die ich von meinen Lehrern bekommen hatte, komplett alleine zu machen. Im Unterricht konnte man sich ja einfach melden, wenn man eine Frage hatte und der Lehrer hat es sich angeschaut. Und wenn man dem Lehrer eine E-Mail geschrieben hatte, musste man dementsprechend auch warten. Ich konnte dann an manchen Punkten nicht weiter machen.


Interviewerin: Was würdest du sagen, war für dich die größte Umstellung, an die du dich gewöhnen musstest?


Marie: Zur Anfangszeit war es tatsächlich, dass ich nicht raus durfte. Raus ja aber nicht das Grundstück verlassen. Ich durfte halt auch nicht zu meiner Mama fahren oder zu meiner Tante oder zu sonst jemanden. Wir durften nichts. Ich habe meine Mama kurz gesehen, weil die ja Sachen für mich vorbei gebracht hat. Aber das musste dann auch alles schnell-schnell gehen. Mama musste dann auch wieder schnell gehen. Das war dann schon hart. (…)

Ja. Was war noch anders? Wir durften nicht mit einkaufen gehen. Also die Betreuer sind dann einkaufen gegangen. Alleine. Also sonst sind immer zwei bis drei Kinder mitgegangen, weil wir ja immer mega viel zum Einkaufen haben, aber das durften wir ja auch nicht. Also wir waren die ganze Zeit nur hier. Ja, wir waren echt nur Zuhause. Sonst hatten wir nicht wirklich was, echt nicht viel, was wir hätten machen könne. Wir hatten halt die Betreuer aber sonst nichts. 


Interviewerin: Wie hat sich denn deine Freizeit im Vergleich zu vorher verändert?


Marie: Mh. Ja. .. Die Zeit wo wir hier zu Anfang zu Hause waren, war ich echt glücklich mal wieder den ganzen Tag draußen zu sein. Das schafft man sonst gar nicht, wenn man von der Schule kommt und platt ist. Ja und ich fand es echt gut dass wir mal wieder die Gesellschaftsspiele entdeckt haben, weil die Gesellschaftsspiele vorher in unserm Alltag wirklich fast gar nicht stattfanden. Viel haben wir auch draußen gespielt haben und Wasserschlachten mit dem Gartenschlauch gemacht haben. Man konnte einfach mal wieder Kind sein. 


Interviewerin: Hat es Spaß gemacht? Du hast gerade davon gesprochen wieder Kind sein zu können.


Marie: Ja auf jeden Fall. Ich habe es echt genossen. Klar die Schule hat mir gefehlt, auch meine Freunde zu sehen, aber auch die Zeit, die man als Gruppe intensiv verbracht hat, war auch toll, weil wir das schon lange nicht mehr gemacht haben. 


Interviewerin: Du hast ja schon erzählt, dass du eigentlich viel Zeit mit deinen Freunden verbringst und dass dir das wichtig ist. Wie war es denn ohne?


Marie: Ja also … (lacht) hört sich vielleicht etwas scheiße an, aber irgendwann nach 1 1/2 Monate habe ich es echt nicht mehr ausgehalten hier zu sein. Klar hat man telefoniert und über WhatsApp, aber das ist nicht das Gleiche. Es ist dann soweit gekommen, dass ich nachts teilweiße weg gewesen bin. Also ich bin dann einfach nachts als die Betreuer geschlafen haben rausgegangen und habe mich von meinen Freuden abholen lassen. Wir sind dann rumgefahren und haben einfach Zeit zusammen verbracht. Ich bin dann morgens immer zurück gewesen. … Das war eine absolutes No-Go aber ich war in der Situation so … absolut an meiner Grenze … zu vereinsamen.

Klar man hatte die Gruppe und das war auch gut und so aber die soziale Unabhängigkeit hat mir komplett gefehlt. Ich habe mich einfach sozial SO eingeschränkt fühlt. Das hat mich dann einfach zu solchen Schritten verleitet. Für mich war es gut für die Gruppe jetzt nicht. Es war halt … es war halt schon echt schwer.


Interviewerin: Du meintest gerade du hast dich so eingeschränkt gefüllt. Von der Wohngruppe? Von den Regeln?


Marie: Die Ursprungsregel im Lockdown war ja, dass man sich nicht mit anderen Leuten treffen darf. Ich glaube es waren zwei Haushalte oder so. Ja es waren zwei. Aber wir. Wir hatten wirklich nichts. Wir hatten wirklich nur uns. Das war schon echt krass. 

(…)

Interviewerin: Gibt es noch etwas das du mir über Corona erzählen möchtest? 


Marie: (Pause) Ich könnte ja noch was darüber erzählen wie es mit dem jetzigen Lockdown ist. 


Interviewerin: Kannst du gerne machen.


Marie: Jetzt ist ja wieder Lockdown light. Es ist ein Unterschied von 95 % (lacht). Jetzt ist es halt so, dass wir unsere Familien ganz normal sehen dürfen und zusätzlich eine weitere Person. Also ich kann mich mit einer Freundin treffen. Die ist aber dann auch für den ganzen Monat fest. Ich kann nicht im Monat wechseln. Und was wir halt noch haben, ist, dass wir jedes Mal, wenn wir irgendwo hingehen eine Symptomabfrage machen müssen. Wenn ich zum Beispiel zu meiner Mama fahre, muss ich jedes Mal bei meiner Mama anrufen und fragen, ob sie Corona-Symptome hat wie Schnupfen oder Husten. Wenn sie die hat, darf ich dann da nicht hinfahren.


Nachsatz: Inzwischen ist es so, dass die Kinder in der Wohngruppe wieder niemanden außerhalb sehen dürfen. Die Mitarbeiter*innen tragen im Gruppendienst FFP2-Masken und halten Abstand, wenn sie mit den Kindern abends auf dem Sofa Fernsehen schauen.